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Dienstag, 10. Mai 2016

Fahrradstadt: Was Münster von Den Haag lernen kann

Nachhaltige, partizipative Planung, echte Wertschätzung für Radler, vorbildliche Infrastruktur und große Gelassenheit

Den Haag, die mit knapp 500 000 Einwohnern drittgrößte niederländische Stadt, plant für den Radverkehr. Die Stadt hat zwischen 2011 und 2014 bereits 31,5 Mio. Euro dafür ausgegeben, bis 2018 will sie nochmals 13 Mio. Euro in die Verbesserung der Infrastruktur investieren - zum Beispiel für 17 000 zusätzliche Abstellplätze. Radfahren sei als Beitrag zu einer lebenswerten, erreichbaren und gesunden Stadt wichtig, sagt der Beigeordnete Tom de Bruijn, und dies ist ganz offenbar kein Lippenbekenntnis. Davon könnte sich meine Heimatstadt Münster, mehrfach ausgezeichnet als deutsche Fahrradhauptstadt, gern gleich mehrere Scheiben abschneiden.


Wie gesagt, ich lebe in Münster. Was komfortables Fahrradfahren angeht, bin ich anspruchsvoll. Unechte Einbahnstraßen, von Radlern auch gegen die Richtung benutzbar, Fahrradparkhäuser an sich oder Vorrangschaltungen an Ampeln beeindrucken mich nicht. Nur: In Münster ist seit gefühlt Jahrzehnten nichts Neues passiert. Den Haag dagegen ist ein Paradies.


Wie in den Niederlanden schon immer üblich, sind die Fahrspuren für Radler überall vorhanden und sehr üppig bemessen. Die separaten Fahrradampeln schalten in kürzester Zeit auf grün, der fließende Autoverkehr ist mitnichten vorrangig. Die Streckenführung trägt dem Verhalten der Radler Rechnung, immer den kürzesten Weg zu wählen — keine komplizierten Wege bis zur nächsten Kreuzung, dann queren, dann auf der anderen Seite wieder ein Stück zurück usw. usw. Und was das Parken angeht, so hält Den Haag unter anderem zehn Parkhäuser an neuralgischen Punkten in der City vor. Zehn! Dezentral, schnell, bequem zu nutzen, gepflegt und dann auch noch kostenlos. Vielleicht noch erwähnenswert: Als Auswärtige kann ich an diesen Stationen die „Stadsfietsen“ ausleihen, bequeme flotte Räder für 7,50€ pro Tag.


Was das Radeln in Den Haag für mich noch einmal attraktiver macht, ist die Abwesenheit von Polizisten, die hinter den Straßenecken lauern und auf die buchstabengetreue Einhaltung der Verkehrsregeln dringen. Ja, der Verkehr läuft anarchischer als in Münster, aber dafür nicht halb so rigide, sondern organisch-entspannt. Nicht ein einziges Mal bin ich in fünf Tagen angefahren worden — weder in echt noch mit Worten.


Die gut ausgebaute Infrastruktur für Radler bei gleichzeitiger Beschränkung des Autoverkehrs hat eine weitere Folge: In Den Haag wird alles und jeder per Rad transportiert. Vom Blumenkübel über sperrige Lasten bis zum Mitfahrer. Zwei Kinder auf dem Rad? Kein Problem. Bei dreien sitzen zwei vermutlich vorn im „Bakfiets“. Alles gesehen. Die neueren Räder haben in der Überzahl auch vorn einen stabilen Gepäckträger, meist mit einer Kiste bestückt. Geschäfte und andere gefragte Anlaufpunkte richten ihre Fahrradständer auf die Lasten-Esel ein. Denn schließlich seien die Radler gute Kunden, tragen im Juni 2015 bei der Übereinkunft der wichtigsten Stakeholder (Bewohner, Kaufleute, Planer) die Wirtschaftsvertreter bei.


In Holland habe ich das Fahrradparadies gesehen. Jeder Radler hilft, den Autoverkehr zu verringern und die Stadt ein Stück lebenswerter zu machen. Die Niederländer haben das längst erkannt und außerdem, dass das Radfahren auch ökonomisch bedeutsam ist. Diese Pfunde sehe ich in meiner Stadt noch zu wenig berücksichtigt. Ich wünsche mir von der Politik mehr Mut, bei der Planung zukünftiger Mobilität nicht nur auf die Autofahrer zu schielen. Damit steht und fällt für mich das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit.

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