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Freitag, 17. Januar 2014

Kreatives Kondensat

Ein nicht ganz ernst gemeinter Abriss über kreative Prozesse, den Arbeitsalltag als Freiberufler und Honorarsätze

Kunden freiberuflich arbeitender Menschen sollte man sich als glückliche Menschen vorstellen. Jedenfalls sofern sie begreifen, wie gut sie mit ihrem Anliegen aufgefangen, verwöhnt, umsorgt und bedacht werden. Eigenartigerweise ist - in zum Glück eher seltenen Fällen - eher Argwohn zu bemerken, wenn die Sprache auf Stundensätze und Honorare kommt. Als hätte jemals ein Kunde all die Stunden bezahlen müssen, die ich gedanklich mit seiner Aufgabenstellung verbracht habe, bis sich die Lösung als Kondensat aller kreativen Prozesse im Ergebnis niederschlägt.

Schon beim ersten Briefing feuern die Neuronen regelmäßig und signalisieren höchste Bereitschaft, den richtigen Anpack zu finden. Im Geiste bieten sich erste Strukturen an, wie das Thema sich sinnvoll gliedern und in erfolgversprechende Muster und Abläufe fassen ließe. Jede Lösung bedarf einer gründlichen Analyse, ist klar. Aber die gesamte Recherchezeit, die ich wirklich aufwende, um das Material des Kunden zu sichten, die Mitbewerber unter die Lupe zu nehmen und vielleicht fachlich noch den einen oder anderen Punkt solide zu unterfüttern, die wird der Kunde nie erfahren.

Oh wei, schon 14 Uhr, gleich stehen die Kinder in der Tür. Kreative Prozesse brauchen Pausen, damit der Rauch sich verzieht und das Gehirn ein klareres Bild gewinnen kann. Schnell ein Mittagessen zusammengezimmert, die Reste vom Morgen aufgeräumt. Beim Mittagessen darf die eigene Brut mitdenken: Ein schönes Bild, um ein Netzwerkunternehmen verständlich und eingängig darzustellen? Orchester - zu intellektuell. Spinnennetz - iiiiigitt! Fußballmannschaft mit Coach - vielleicht. Aber Bayern München bloß nicht. Wenn die Kinder dann in ihre Zimmer oder zu nachmittäglichen Terminen verschwinden, arbeitet es in mir weiter. Eigentlich ändert sich das nicht mehr, bis das Projekt erfolgreich abgeschlossen ist, manchmal nicht einmal des Nachts. Meine Augen bleiben staunend an dem Spinnennetz in der Fensterecke hängen. Muss das Netz überhaupt Eingang in den Slogan finden, zweifele ich, während ich abends die Doku über Logistik und neuronale Netze sehe. "Ich denke, bei dir verhält es sich wie bei einem Computer", resümierte neulich mein Gesundheitsguru Moni nach einer neuerlichen Migräneattacke. "Bei dir laufen zu viele Hintergrundprozesse gleichzeitig, das schlägt auf die Energie-Performance. Schalt mal ab!"

Einen halben Tag berechne ich dem Kunden schließlich nach Projektabschluss. Was dann manchmal annähernd der Zeit entspricht, die ich während des Auftrags auf meinem Schreibtischstuhl verbracht habe.

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